Post-COVID-Syndrom und Long-COVID

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Jördis Frommhold / Per O. Schüller (Hrsg.): Post-COVID-Syndrom und Long-COVID – Diagnostik, Therapie und Verlauf, 320 Seiten, 21 Schwarzweißabbildungen, ISBN: 978-3-95466-698-0, EUR 59,95, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2023.

Postinfektiöse Erschöpfungssyndrome und Folgeerkrankungen sind der Medizin schon lange bekannt und entsprechend beschrieben wie etwa nach einer Epstein-Barr-Virus-Infektion oder nach der Grippe-Pandemie vor über 100 Jahren. Die langfristigen Gesundheitsschäden nach einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV2 werden als Long-COVID und Post-COVID beschrieben. Sie haben sich weltweit zu einem Massenphänomen mit weitreichenden gesundheitlichen, psychosozialen und ökonomischen Auswirkungen für die Betroffenen selbst und für die gesamte Gesellschaft entwickelt. Internationale Leitlinien verwenden den Begriff „Long-COVID“, wenn Betroffene mehr als vier Wochen nach der Akutphase noch immer an Beschwerden leiden. Bleiben die Symptome länger als zwölf Wochen bestehen, liegt laut Leitlinien das „Post-COVID-Syndrom“ vor. Long-COVID schließt die Post-COVID-Phase mit ein. Nach internationalem Forschungsstand entwickeln gut zehn Prozent der COVID-19-Infizierten eine Post-COVID-Symptomatik.

Wie nie zuvor mussten nicht nur medizinische Fachschaften, sondern auch alle Sozialsysteme so viel Wissen über eine Krankheit so schnell lernen, um in kurzer Zeit wirksame Therapie- und Versorgungskonzepte zu ermöglichen. Nun legen Jördis Frommhold (Internistin, Notfallmedizinerin, Pneumologin) und Per O. Schüller (Internist, Kardiologe, Pneumologe, Sozialmediziner) das erste Fachbuch zu Diagnostik, Therapie und Verlauf von Long- und Post-COVID vor. Als Herausgeber haben sie 51 weitere Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Fachbereichen gewinnen können, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen der letzten zwei Jahre für eine interdisziplinär abgestimmte Zusammenarbeit in der Behandlung und Versorgung von Long-COVID-Patient:innen bereitzustellen. Gelungen ist ihnen ein breitgefächertes Kompendium, das in fünf Kapiteln Expertenwissen für eine bedarfsgerechte und individualisierte Praxis nutzbar macht.    

Kapitel I beginnt mit einem medizinhistorischen Rückblick auf Seuchenausbreitungen bis in vorchristliche Zeiten. Der Beitrag hilft zu verstehen, dass seit Menschengedenken mit jeder Seuche, mit jeder Epidemie und Pandemie nicht nur auf der biologischen, sondern auf allen Ebenen menschlichen Lebens und der Gesellschaft großes Leid mit Langzeitfolgen einhergeht. Was damalige Geschichtsschreiber an Hilfs- und Ratlosigkeit von Heilkundigen und Angehörigen, an Erklärungsversuchen zu Ursachen und Heilungsmaßnahmen, an Behandlungsversagen, Schuldzuweisungen, Verschwörungen, Strafe der Götter, politischen Handlungsfehlern, mangelnder Empathie und Verlustängsten dokumentierten, zeigt viele Parallelen zu den individuellen und gesamtgesellschaftlichen Leidsituationen der Corona-Pandemie auf. – Der zweite Beitrag erörtert epidemiologische Daten und Fakten zu Häufigkeit, Schweregrade und Verteilung, definiert Begriffe wie Inzidenz, Prävalenz und Letalität und ordnet Symptome und Krankheitsschwere zum akuten Verlauf und zu Long-COVID ein. Nach Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Wohnort und Beruf werden die Risikofaktoren beschrieben, die dazu beitragen, dass bestimmte Personengruppen besonders hoch disponiert sind, sich zu infizieren und einen schweren Verlauf zu durchleben. Wie erste positive Ergebnisse aus bisherigen Praxiserfahrungen mit medizinischer Rehabilitation von Long-COVID-Betroffenen zeigen, spielt eine breit angelegte medizinische Nachsorge eine sehr bedeutende Rolle. Damit lässt sich ein umfassendes Verständnis für eine COVID-19-Erkrankung mit vielfältigen und unspezifischen Symptomen bilden, die sich nicht als reine Atemwegsinfektion, sondern als Multiorganerkrankung mit zum Teil schweren Langzeitfolgen oder gar eigenständigen Folgeerkrankungen darstellt. – Ebenso umfassend muss die Versorgung von Post-COVID-Betroffenen verstanden und gewährleistet werden. Dem entsprechend gibt der dritte Beitrag eine Übersicht über die Versorgungslage in Deutschland und benennt zugleich Erfordernisse, die es zur Verbesserung von Versorgungswegen und Leitlinien braucht, wie zum Beispiel die Koordination von primär- mit spezialisierter fachärztlicher Diagnostik und Versorgung sowohl stationär als auch ambulant. 

In Kapitel II informieren drei Beiträge über die Virologie des hochinfektiösen Coronavirus (Virusfamilie, Ursprung, Struktur, Virusentwicklung während der Infektion), über die Symptomatik (Krankheitsspektrum, Organbeteiligung, mögliche Komplikationen) der akuten SARS-CoV2-Infektion sowie über deren Verlauf und Prognose. Bei letzterem wird ausführlich auf Risikofaktoren für schwere Akutverläufe und lang anhaltenden Symptome eingegangen, um Post-COVID-Beschwerden besser verstehen und einordnen zu können.

Kapitel III beschreibt in sechs Beiträgen Symptome und Krankheitsverlauf des Post-COVID-Syndroms, das wie die akute COVID-19-Erkrankung als Multisystemerkrankung gesehen werden muss. Selbst nach einem milden Aktutverlauf kann es zu Post-COVID kommen. Dargestellt an zwei Fallbeispielen zeigt sich, dass es das typische Post-COVID-Beschwerdebild nicht gibt. Vielmehr überlappen sich die Symptome betroffener Organsysteme, bilden individuelle Cluster, die in ihrer Intensität schwanken und sich im Krankheitsverlauf verändern können. Um dennoch einen Überblick zu erhalten, werden Symptomkonstellationen und -manifestationen in neurologische, psychiatrisch-psychosomatische und internistische Störungen unterteilt und jedes Organsystem für sich erläutert. – Sehr ausführlich wird in einem Beitrag das Chronische Fatigue-Syndrom thematisiert. Es ist eine der schwersten Formen des Post-COVID-Syndroms und geht mit einer abnormen körperlichen, geistigen und seelischen Erschöpfung und einer ausgeprägten Belastungsintoleranz einher. Wegen der begleitenden Funktionsstörungen des zentralen und autonomen Nervensystems wird sie als eigenständige Krankheit zu den neurologischen Erkrankungen gezählt und als Myalgische Enzephamyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) bezeichnet. Sie ist sozusagen die Krankheit nach der Krankheit, die arbeitsunfähig macht und im schlimmsten Fall zu dauerhafter Bettlägerigkeit führt. Typisch für die ME/CFS ist die am Folgetag einer Anstrengung auftretende Verschlechterung der Symptome, die sogenannte postexertionelle Malaise. – Das Kapitel schließt mit einem Beitrag über das Pädiatrische Post-COVID-Syndrom ab. Auch wenn Post-COVID bei Kindern und Jugendlichen weniger auftritt als bei Erwachsenen, so sind die sich in einer Vielzahl an (auch anderen) Symptomen zeigenden Langzeitfolgen nicht weniger bedeutend für notwendige disziplinübergreifende, ganzheitliche Therapiemaßnahmen. Detailliert beschrieben werden daher Epidemiologie, Verlauf, Pathogenese, Diagnostik, auch Ausschlussdiagnostik, Behandlung und Symptome. 

Kapitel IV stellt fünf Therapiekonzepte vor. Für das theoretische Verständnis sind die ersten vier Beiträge jeweils den Störungen der betroffenen Organsysteme zugeordnet, für eine wirkungsorientierte Praxis aber muss in interprofessioneller Abstimmung nach individualisierter Diagnostik auch eine individualisierte Therapie konzipiert werden. Das heißt, maßgebend für die Behandlungsziele und den -prozess sind die mit großer Sorgfalt zu berücksichtigenden individuellen Hauptsymptome sowie die psychosomatische Belastbarkeit und Erschöpfbarkeit der Betroffenen. Zudem ist zu beachten, dass viele Post-COVID-Patient:innen, die einen schweren bis kritischen Akutverlauf überlebten, traumatisiert sind, sei es durch die Schwere der Infektion selbst und / oder durch das Post-Intensive-Care-Syndrom nach einem langen intensivmedizinischen Aufenthalt mit Beatmungstherapie. Traumatisierend für Post-COVID-Betroffene sind auch neurologische Manifestationen (Neuro-COVID) wie Geruchs- und Geschmacksverlust, neurokognitive Dsyfunktionen und Fatigue. So müssen Therapie und Rehabilitation bei Post-COVID gegebenenfalls die Behandlung posttraumatischer Störungen einbeziehen. Ganz gleich welche Symptomkonstellation vorrangig zu behandeln ist, jede Therapiemaßnahme gleicht einer Gratwanderung zwischen Über- und Unterforderung entlang der individuellen Energiereserven. Das Abwägen der Leistungsgrenzen und die vorausschauende Einhaltung von Ruhe- und Erholungsphasen spielen bei jedem Behandlungsschritt eine zentrale Rolle. Das Energiemanagement, das sogenannte „Pacing“, ist essenziell, ebenso die Stresskontrolle und die psychosoziale Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung, das „Coping“! – Der fünfte Beitrag skizziert Anwendung, Wirkung und Kontraindikationen der Hyperbaren Sauerstofftherapie (HBO). Bei Post-COVID-Betroffenen mit neurologischen Störungen wie Brain Fog oder Fatigue, die sich einer HBO in einer Überdruckkammer unterzogen, konnten positive Wirkungen erzielt werden. Die bisherigen wissenschaftlichen Daten sind jedoch wenig belastbar, sodass die HBO-Therapie derzeit nur als „individueller Heilversuch“ ohne Übernahme der Behandlungskosten durch die Krankenkassen erfolgen kann. 

Mit zehn Themen informiert Kapitel V über wichtige sozialmedizinische, gesellschaftliche und organisatorische Aspekte zur Bewältigung von Post-COVID und zur Sicherstellung der Nachsorge. Um einige Beispiele zu nennen, beziehen sich die Themen auf Post-COVID-Ambulanzen; digitale Nachsorge; wem und wie die Deutsche Rentenversicherung eine Rehabilitation bewilligt; berufliche Wiedereingliederung; ist die Infektion mit dem Coronavirus am Arbeitsplatz ein Fall für die gesetzliche Unfallversicherung? Ein Beitrag gibt wertvolle praktische Patientenhinweise auf medizinische Behandlungs- und soziale Unterstützungsmöglichkeiten, Selbstmanagement im Alltag sowie auf die Rückkehr in das Arbeitsleben und die Wiederaufnahme von Bewegungsaktivitäten. Andere Themen wiederum regen zur Diskussion über das „hart aber unfair getroffenen gesellschaftlichen Nervensystem“ oder darüber, wie nach den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie Gesundheit neu in einem ganzheitlichen Sinn definiert und unser Gesundheitssystem entsprechend angepasst werden kann.

Fazit

Das Buch bietet eine detailreiche Fülle an anwendbarem Wissen für ganzheitliche Therapieansätze und soziale Versorgungswege bei Long-COVID. Jeder Beitrag kann je nach Fachinteresse für sich gelesen werden. Doch schnell ist feststellbar, dass ohne interdisziplinäre Arbeit fachübergreifende, nachhaltige Praktiken nicht möglich sind. Die hier gezeigte Multikompetenz beweist ebenso, dass eine solch folgenschwere Krankheit ohne Zwischenmenschlichkeit nicht zu bewältigen ist. Damit nährt das ambitionierte Autorenteam die Hoffnung auf eine baldige erweiterte Buchauflage. 

Cornelia M. Kopelsky
Freie Fachjournalistin und Fachautorin
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